Der XII. Zivilsenat des BGH, der unter anderem auch für das Familienrecvht zuständig ist, hatte jetzt zwei Fälle zu entscheiden, bei denen die Ausübung der elterlichen Sorge in einen Interessenskonflikt zwischen Religionsausübung und Schulpflicht geriet.Die elterliche Sorge ist ein Pflichtenrecht, die Grundsätze sind geregelt im § 1626 BGB:
„§ 1626 Elterliche Sorge, Grundsätze
(1) 1Die Eltern haben die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). 2Die elterliche Sorge umfasst die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge).
(2) 1Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln. 2Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an.
(3) 1Zum Wohl des Kindes gehört in der Regel der Umgang mit beiden Elternteilen. 2Gleiches gilt für den Umgang mit anderen Personen, zu denen das Kind Bindungen besitzt, wenn ihre Aufrechterhaltung für seine Entwicklung förderlich ist.“
Das Familiengericht hat eine Eingriffsbefugnis für den Fall, dass dieses Sorgerecht fahrlässig oder vorsätzlich missbräuchlich ausgeübt wird, dies ergibt sich aus dem § 1666 BGB:
„§ 1666 Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls
(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten gefährdet, so hat das Familiengericht, wenn die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen.
(2) In der Regel ist anzunehmen, dass das Vermögen des Kindes gefährdet ist, wenn der Inhaber der Vermögenssorge seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind oder seine mit der Vermögenssorge verbundenen Pflichten verletzt oder Anordnungen des Gerichts, die sich auf die Vermögenssorge beziehen, nicht befolgt.
(3) Das Gericht kann Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge ersetzen.
(4) In Angelegenheiten der Personensorge kann das Gericht auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.“
Damit ist der Rahmen für die beiden Beschlüsse des BGH vom 11.09.2007 abgesteckt:
Es ging nämlich um Eltern, die ihre Kinder der allgemeinen Schulpflicht entzogen. Das besodnere hieran war, dass die Eltern hierfür Glaubensgründe anführten.
Den Beschlüssen lag im Wesentlichen der folgende Sachverhalt zugrunde:
De Eltern – Familie A – sind Mitglieder einer christlichen Glaubensgemeinschaft. Gemeinsam mit anderen Glaubensgenossinnen und Genossen kamen sie als Spätaussiedler nach Deutschland.
Sie waren der Meinung, dass die Erziehung und Bildung in der öffentlichen Grundschule mit ihren Glaubensüberzeugungen nicht vereinbar seien. Aus diesem Grunde teilte Familie A der Schule mit, dass zwei ihrer Kinder in Zukunft zuhause unterrichtet würden. Weder Gespräche mit Schulleitung, Bezirksregierung und Integrationsbeauftragtem noch die Verhängung eines Bußgeldes führten dazu, dass die Eltern ihre Kinder zum Schulunterricht brachten; ein Zwangsgeldverfahren wurde nicht erfolgreich abgeschlossen.
Daraufhin entzog das Familiengericht den Eltern die im Wege der einstweiligen Anordnung die elterliche Sorge in Schulangelegenheiten sowie das Aufenthaltsbestimmungsrecht für diese Kinder.
In der Sache hat der Bundesgerichtshof die – auf Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts gestützte – Auffassung der Vorinstanzen bestätigt, dass der Besuch der staatlichen Grundschule dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags diene. Hierzu stütze das Gericht sich auf folgende Argumentationskette:
„Die Allgemeinheit habe ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich geprägten „Parallelgesellschaften“ entgegenzuwirken und Minderheiten auf diesem Gebiet zu integrieren. Integration setze dabei auch voraus, dass religiöse oder weltanschauliche Minderheiten sich nicht selbst abgrenzten und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und -gläubigen nicht verschlössen. Dies im Sinne gelebter Toleranz einzuüben und zu praktizieren sei eine wichtige Aufgabe der Grundschule.“
Hieraus folgt nun der zwingende Schluß, dass die beharrliche Weigerung der Eltern, ihre Kinder der öffentlichen Grundschule oder einer anerkannten Ersatzschule zuzuführen, deshalb als Missbrauch der elterlichen Sorge darstellt. Damit ist der Anwendungsbereich des § 1666 BGB eröffnet.
Wenn hier jetzt die Ausübung der Glaubensfreiheit der Schulpflicht entgegenzustehen scheint, dann gibt aber auch dies den Eltern keine Berechtigung, ihre Kinder der Schulpflicht zu entziehen.
Mit der Schulpflicht ist ja nicht die Glaubensausübung insgesamt infrage gestellt, Lediglich einzelne Lehrinhalte oder -methoden der Schule stehen nach Auffassung der Eltern ihren Glaubensüberzeugungen entgegen.
Der Maßstab kann aber nur der Erziehungsauftrag der Schule im Sinne des Grundgesetzes sein. Wenn der Staat diesem Auftrag verantwortungsvoll nachkommt, bleibt kein Platz für einen Entzug der Kinder aus der Schulpflicht.
Wenn nun also die beharrliche Weigerung, den Kindern die Erziehung in der öffentlichen Schule oder einer anerkannten Ersatzschule zu ermöglichen, einen Sorgerechtsmissbrauch darstellt, so ist in einem solchen Falle auch der Sorgerechtsentzug angemessen und geeignet, um dem rechtswidrigen Zustand zu begegnen.
Soweit- sogut. Der Fall hatte aber noch eine weitere Dimension.
Diese hatte mit der Pflegerbestellung zu tun. Denn ein minderjähriges Kind, das nicht der elterlichen Sorge untersteht, braucht jemanden, der diese elterliche Sorge auch ausführt. Dies gilt auch, wenn wie hier nur ein Teil der elterlichen Sorge entzogen wird, der Rest des Sorgerechts aber bei den Eltern verbleibt. Geregelt ist dies im § 1909 BGB:
„§ 1909 Ergänzungspflegschaft
(1) 1Wer unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht, erhält für Angelegenheiten, an deren Besorgung die Eltern oder der Vormund verhindert sind, einen Pfleger. 2Er erhält insbesondere einen Pfleger zur Verwaltung des Vermögens, das er von Todes wegen erwirbt oder das ihm unter Lebenden unentgeltlich zugewendet wird, wenn der Erblasser durch letztwillige Verfügung, der Zuwendende bei der Zuwendung bestimmt hat, dass die Eltern oder der Vormund das Vermögen nicht verwalten sollen.
(2) Wird eine Pflegschaft erforderlich, so haben die Eltern oder der Vormund dies dem Vormundschaftsgericht unverzüglich anzuzeigen.
(3) Die Pflegschaft ist auch dann anzuordnen, wenn die Voraussetzungen für die Anordnung einer Vormundschaft vorliegen, ein Vormund aber noch nicht bestellt ist.“
Hierauf gestützt bestellte das Familiengericht schon im Wege des einstweiligen Anordnungsverfahrens die zuständige Stadt P. (Jugendamt) zum Pfleger der Kinder.
Was gut gemeint war, zeigte aber unglaubliche Folgen:
Mit Einwilligung des Pflegers verbrachten die Eltern die Kinder daraufhin in ein Dorf in Österreich. Die Eltern und die Familie behielten ihren Wohnsitz in Deutschland bei. In Österreich kann man in besonderen Fällen nämlich Kinder zuhause unterrichten. Der Pfleger erwirkte in der Folgezeit nach österreichischem Recht die Gestattung, dass die Mutter den Kindern Hausunterricht erteilen dürfe.
Seither werden die Kinder dort von ihrer Mutter unterrichtet. Die Mutter selbst hat keinerlei pädagogische Vorbildung.
Das Familiengericht hätte zwar im Hauptsacheverfahren die Möglichkeit gehabt, diese Entwicklung durch eine andere Pflegerbestellung zu korrigieren, bestätigte aber seine zuvor getroffene Regelung.
Die von den Eltern hiergegen eingelegte Beschwerde wies das Oberlandesgericht zurück. Die zugelassene Rechtsbeschwerde hatte nur zu einem geringen Teil Erfolg.
Die Tatsache, dass die Kinder jetzt nach Österreich verbracht worden sind, hat auch eine zusätzliche prozessuale Frage aufgeworfen, nämlich, ob die deutschen Gerichte hier überhaupt noch zuständig sind.
Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ergibt sich aus der Tatsache, dass die übrigen Familienmitglieder ebenso wie die Eltern ihren Wohnsitz im Geltungsbereich des Grundgesetztes beibehalten hatte.
Die weitere Frage war die, ob die Kinder weiterhin der deutschen Schulpflicht unterliegen, wenn sie sich dauerhaft in der Alpenrepublik aufhalten. Auch diese Frage war wegen des Familienwohnsitzes im Inland zu bejahen.
Die Tatsache, dass mit der Pflegerbestellung der „Bock zum Gärtner“ gemacht worden ist, hat der BGH aber scharf kritisiert.
Denn dieser Pfleger habe sich offenkundig als in diesen Fällen ungeeignet erwiesen, den Gefahren für das Kindeswohl effektiv zu begegnen.
Der Pfleger habe durch sein Verhalten sogar erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Kinder nach Österreich umgemeldet worden seien.
Dem nicht genug habe er sodann die Möglichkeit, die Kinder in Österreich dem Hausunterricht zuzuführen, durch eine entsprechende Antragstellung bei den österreichischen Behörden selbst eröffnet.
Der BGH führte hierzu aus:
„Damit sei der Erfolg eingetreten, den die Eltern von vornherein erstrebt hätten, nämlich die häusliche Unterrichtung der Kinder durch ihre pädagogisch nicht vorgebildete Mutter – dies allerdings nicht in Deutschland, sondern in Österreich. Es sei nicht ersichtlich, dass die vom Familiengericht – nunmehr im Hauptsacheverfahren – verfügte Übertragung des Sorgerechts in Schulangelegenheiten sowie des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Stadt P. (Jugendamt) an der von der Stadt als Pfleger selbst herbeigeführten Situation etwas ändere.“
Der Bundesgerichtshof hat deshalb die Bestellung der Stadt als Pfleger aufgehoben und die Sache insoweit an das Oberlandesgericht zurückverwiesen, damit dieses durch die Auswahl eines geeigneten Pflegers oder durch gerichtliche Weisungen sicherstelle, dass die Kinder ihrer Schulpflicht nachkommen.
Beschlüsse vom 11. September 2007
XII ZB 41/07
AG Paderborn – 8 F 810/05 – Entscheidung vom 07.03.2006
OLG Hamm – 6 UF 53/06 – Entscheidung vom 20.02.2007
und
XII ZB 42/07
AG Paderborn – 8 F 811/05 – Entscheidung vom 07.03.2006
OLG Hamm – 6 UF 51/06 – Entscheidung vom 20.02.2007